Eine lang ersehnte Reise

CN: Sprechen über Therapieerfahrung, Hass gegenüber sich selbst und anderen, Therapieerfahrung

Lieber Mensch,

im folgenden Text möchte ich dir von meinem Weg erzählen. Es ist der Weg von einem jungen Menschen voller Zweifel und Ängste, zu einer selbstbewussten Frau. Vielleicht hilft dir mein Text ja auf deinem eigenen Weg. Vielleicht erfährst du auch nur, dass der Weg zum Ziel nicht immer der einfachste ist. In jedem Fall möchte ich dir Mut machen, dich auf deine eigene Reise zu begeben!

Ich wurde im März des Jahres 1990 geboren. Ein Arzt warf einen Blick zwischen meine Beine und sagte meinen Eltern “Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge”. Er konnte nicht ahnen, wie falsch er damit lag. Er konnte auch die Behinderung nicht erahnen, mit der ich zur Welt kam und die knapp ein Jahr später damit begann, die Muskeln in meinem Körper nach und nach zu schwächen. Als ich ungefähr 4 Jahre alt war, entwickelte sich mein Bewusstsein für mein Geschlecht. Bewusstsein bedeutet in diesem Fall eine grobe Vorstellung davon, dass etwas mit mir und meinem Körper „nicht stimmt“. Ich wusste auch in diesem Alter: ich bin kein Junge.

Für mich war damals schon klar, dass ich nicht darüber sprechen konnte. Ein Junge musste in meinem Umfeld ein Junge sein. Für mich war das auch als kleines Kind schon ein massives Problem, denn ich versteckte damals schon gewisse Züge meiner Persönlichkeit vor Freund*innen und meiner Familie. Zu Beginn meiner Pubertät wurde dieses Versteckspiel zu einer noch größeren Herausforderung.

Meine Psyche kam mit den körperlichen Veränderungen nicht zurecht. Die Herausforderungen dieser Zeit haben mich extrem überfordert. Ich flüchtete in Bücher, Gaming, aber am meisten in meinen Selbsthass. Den richtete ich allerdings nicht hauptsächlich nach innen, sondern gegen andere Menschen. Gegen andere queere Menschen, gegen andere Menschen mit Behinderung, gegen Menschen mit einer anderen Hautfarbe. Einfach gegen jeden Menschen, der irgendwie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach. Ich kopierte sogar bewusst klischeehafte und oftmals bösartige Verhaltensweisen von Männern aus meinem Umfeld, weil ich sie für typisch männlich hielt.

Das änderte sich jahrelang nicht, im Gegenteil. Es wurde schlimmer und den Schaden, den ich mir und anderen zugefügt habe, habe ich immer noch nicht völlig überwunden. Doch irgendwann kam der Tag, an dem ich mich nicht mehr verstecken wollte. Mein Coming-Out passierte in kleinen Schritten und mit Hilfe einer Beratungsstelle fand ich sogar einen Therapieplatz für die Begleittherapie. Das war wirklich schwierig, denn psychotherapeutische Praxen, die sich mit trans* Themen beschäftigen, sind selten barrierefrei.

Als die Therapie in online Sitzungen begann, musste ich den Therapeuten erstmal davon überzeugen, dass meine Behinderung nicht der Grund für mein trans* Sein ist. Ich verstehe jetzt, dass der Mann nur seine Arbeit gewissenhaft erledigen wollte, doch damals hat mich das extrem gestresst. Meine Behinderung hat nichts mit meinem Geschlecht zu tun! Für mich war dieser Punkt ein erster kleiner Rückschlag. Es sollte nicht der Letzte bleiben.

Nach knapp einem Jahr in der Therapie, standen wir endlich vor dem Thema Hormonersatztherapie. Andere Themen wie geschlechtsangleichende Operationen waren bereits vom Tisch. Ich würde eine solche Operation nicht überleben, was mich erneut sehr verletzte. Eigentlich müsste eine Hormonersatztherapie kein besonderes Hindernis sein, wenn es eine Indikation gibt und medizinisch keine anderen Einwände vorliegen. In meinem Fall wusste nur niemand, ob meine Behinderung ein solcher Einwand wäre. Ich hörte von den behandelnden Ärzt*innen oft, dass ich ein Einzelfall bin. Ein Phänomen. Eine medizinische Seltenheit. Fun Fact: Ich bin nichts davon. Ich bin ein Mensch, der sich entschieden hat, endlich sein Leben zu leben.

Nach Ewigkeiten voller Tränen und Depressionen bekam ich die Hormone. Auf eigene Verantwortung. Kein Mensch konnte mir sagen, was passieren würde. Allerdings war das ein Risiko, das ich ohne zu zögern einging. Ein paar Monate später änderte ich meinen Namen und bekam endlich das richtige Geschlecht in meinen Dokumenten. Ich war endlich an meinem Ziel, nach all den Schmerzen.

Für mich gibt es heute zwei Leben, die ich gelebt habe. Das Leben voller Ängste, geprägt von einem Versteckspiel, dessen Nachwirkungen ich jeden Tag aufs Neue bekämpfen muss. Dann ist da noch mein jetziges Leben, das endlich mir gehört. Das Leben einer immer noch jungen Frau, die sich endlich stolz und glücklich im Spiegel betrachten kann und ihr Leben in vollen Zügen lebt. Ich war 31, als mein Weg zu mir selbst begann. Es ist nie zu spät, um glücklich zu sein und es gibt immer einen Weg.

Chris Lily Kiermeier